S. Businger u.a. (Hg.): Von der paternalistischen Fürsorge zu Partiipation und Agency

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Titel
Von der paternalistischen Fürsorge zu Partizipation und Agency. Der gesellschaftliche Wandel im Spiegel der Sozialen Arbeit und der Sozialpädagogik


Herausgeber
Businger, Susanne; Biebricher, Martin
Erschienen
Zürich 2020: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 38,00
von
Béatrice Ziegler, Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik am ZDA, PH FHNW

Die Publikation entstand im Nachgang zu der im Juni 2018 von der Arbeitsgemein schaft «Historische Sozialpädagogik / Soziale Arbeit» veranstalteten Tagung zum Thema «Sozialer Wandel und Fachlichkeit». Ihr Titel legt dabei eine Entwicklung nahe, die von paternalistischen Konzepten zu solchen der Partizipationsförderung und der Anerkennung der Agency in der Sozialen Arbeit sowie der Sozialpädagogik verlief. Dass sich dabei in den Beiträgen eine gradlinige und ungebrochene Entwicklung nur schwer nachzeichnen lässt, ist mit den komplexen Faktoren (Diskurse, Regelungen, Menschen) zu begründen, die sozialen Wandel in Institutionen hindern und befördern. Dies lässt denn auch Gisela Hauss in ihrem Aufsatz von der «Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen» sprechen. Dennoch ist der Wandel, der im Untertitel mit dem Bild der Spiegelung des gesellschaftlichen Wandels in der Sozialen Arbeit und der Sozialpädagogik eingefangen wird, in vielen Beiträgen erkennbar.

Die Einführung von Susanne Businger und Martin Biebricher geht auf die zentralen Begriffe der Tagung – «Sozialer Wandel» und «Fachlichkeit» – ein. Sie halten fest, dass es sich um wenig klar umrissene Konzepte handelt. Für den Zusammenhang der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik betonen sie für das erste, dass es Sozialstruktur, Werte, Kultur, Institutionen, Verständnis von Gemeinschaft, Staatlichkeit und Herrschaft, Ökonomie und Bildung einschliesst, wobei sie das Verhältnis zwischen Struktur und Individuum als wenig geklärt sehen. Fachlichkeit wird mit Wissensbeständen, Kompetenzen, Handlungspraxen und Haltungen assoziiert, wobei betont wird, dass darüber ein lebhafter Diskurs geführt werde. Dass sie Fachlichkeit schliesslich als «reflektierte Handlungsfähigkeit» zusammenfassen, erstaunt, denn dieses Konzept lässt eine konsequente Wissenschaftsbasierung eher in den Hintergrund treten. Die Begriffe des Buchtitels werden nicht weiter erläutert, obwohl auch hier die Anbindung an Theoriestränge wertvoll gewesen wäre.

Die dreizehn Beiträge sind vier – unterschiedliche Perspektiven eröffnenden – thematischen Teilen zugewiesen: Der erste Teil behandelt Fachlichkeitsdiskurse in verschiedenen Handlungsfeldern, der zweite ist dem Aufwachsen und staatlicher Intervention gewidmet, im dritten Teil werden Bedürfnisorientierung und Stigmatisierung diskutiert, während der vierte Teil mit biographie- und theoriegeschichtlichen Perspektiven den Band abschliesst. Das Zusammenspiel von zentralen Begriffen in der Einleitung und der Titelgebung des Buchs sowie in den unterschiedlichen Ebenen, auf denen die Themen behandelt werden, macht einmal mehr deutlich, wie schwierig eine kohärente Gestaltung von Tagungsbänden sein kann.

Die drei Beiträge, die im Titel «Fachlichkeitsdiskurse in verschiedenen Handlungsfeldern» präsentiert werden, betreffen mit den koedukativen Wohlfahrtsschulen Ausbildungsstätten der Sozialen Arbeit, die Heimerziehung sowie die Supervision. Birgit Bender-Junker und Elke Schimpf zeigen am Beispiel von Waltraut Krützfeld-Eckhard wie ungefestigt der fachliche Zugang zur Sozialen Arbeit auch nach dem Zweiten Weltkrieg war. So war Krützfeld-Eckhard zwar praktisch wie akademisch sehr gut ausgebildet, aber wegen ihrer Haltung und Tätigkeit während des Nationalsozialismus schwer kompromittiert. Dennoch wurde sie Gründungsrektorin der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt. Gisela Hauss plädiert am Beispiel der Heimerziehung in der Schweiz für eine Perspektive, die die Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Ansätzen und Werthaltungen in verschiedenen Milieus und Regionen als Ausgangspunkt für einen analytischen Rahmen nimmt, um eine fachliche Diskussion dazu zu führen. Volker Jörn Walpuski zeichnet das Aufkommen und die Ausbreitung der Supervision in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg nach und zeigt, dass mit ihr (und dem Casework) «psychoanalytisch und sozialarbeiterisch orientierte Diskursstränge zusammengeführt» (S. 59) wurden.

Unter «Aufwachsen und staatliche Intervention» (Teil 2) diskutieren fünf Autorinnen und Autoren den Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Melanie Oechler leitet her, dass sich die Sozialpädagogik in der Jugendhilfe in der BRD nach dem Krieg für das soziale Problem «Jugend in Not» erfolgreich als zuständig positionieren konnte und mit Hilfswerken und Heimen Problemlösungen bot. Bettina Grubenmann und Christina Vellacott zeichnen nach, dass sich in der fachlichen Diskussion um das «Säuglingswohl» in der Schweiz bis heute bindungstheoretische Ansätze dominant halten können, weshalb eine Fremdbetreuung grundsätzlich als schlechte Lösung gilt. Sabine Stange stellt den Fall einer Expertise zu einem hessischen Erziehungsheim und die folgenden Reaktionen in der Phase der Reformüberlegungen der 1970er Jahre vor. Sie zeigt das Unverständnis, mit welchem sich wissenschaftlich argumentierende Expertinnen und Experten und auf ihr reiches Erfahrungswissen verweisende Praktiker begegneten, was eine produktive Kommunikation und die Anbahnung von Weiterbildungen praktisch verunmöglichte. Auch Claudia Streblow-Poser fokussiert auf die Zeit der Heimkampagnen der 1970er Jahre. Am Beispiel der Akte einer Familie in Bochum zeigt sie den Wandel im Diskurs der Familienfürsorge von einer disziplinierenden Perspektive zur «Anerkennung lebensweltlichen Eigensinns» (S. 146). Clara Bombach, Thomas Gabriel und Samuel Keller berichten aus ihrer Studie zu den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in der Schweiz, deren Kern Interviews mit ehemaligen Heimkindern bilden. Sie halten als zentralen Nenner des Lebens als ehemaliges Heimkind fest, dass sich eine nur schwer bearbeitbare Erfahrung der eigenen Verdinglichung und, damit verbunden, eine äusserst fragile Selbstwirksamkeitsüberzeugung in die individuelle Wahrnehmung eingegraben hat. Daraus, so das Team, ergeben sich bedeutsame Einsichten in die Probleme eines staatlichen Prozesses der Wiedergutmachung.

Im Teil 3 diskutieren drei Beiträge theoretische Konzepte und ihre Wirkungen in der Praxis unter dem Titel «Soziale Arbeit zwischen Bedürfnisorientierung und Stigmatisierung». So widmet sich Stefan Piasecki der Geschichte des Jugendstrafrechts mit den Stichwörtern Devianz und sozialer Standard. Dabei geht es um die Sicht auf die Kausalität von Jugendkriminalität als individuelle Abweichung und gesellschaftlich bedingtes Verhalten, die sich über die Jahrzehnte stark verändert hat und auf die Wirkung von Exklusion (durch Inhaftierung) und die Möglichkeit für Reintegrationsprozesse stärker ins Zentrum rückt. Christian Niemeyer thematisiert am Beispiel der Syphilis, was es für Problemwahrnehmungen und Lösungsansätze bedeutet, wenn theoretische Zugänge oder normativ aufgeladene Perspektiven Probleme unzureichend, einseitig oder ideologisiert angehen, was er an der tabu-belasteten Sicht auf die sexualisierte Gewalt an Kindern ausführt. Joachim Henseler diskutiert mit den Beispielen der Heimerziehung und des Kindergartens die Herausforderung für die Disziplin, die sich aus dem gesellschaftlichen Prozess hin zur Demokratieerziehung und zur Gewährleistung von Partizipationsrechten ergeben hat.

Der letzte Teil (Teil 4) widmet sich «biographie- und theoriegeschichtlichen Perspektiven». Dabei stellt Beate Lehmann das Wirken von Siegfried Lehmann in der jüdischen Waisenhilfe vor, die er vorerst in Kowno und Berlin und später in Ben Schemen in Palästina als sein Lebenswerk verfolgte, wobei ihn das Konzept der Selbstverwaltung und der Verantwortungsübernahme leitete. Peter Szynka diskutiert den Heimatbegriff bei Karl Jaspers, um diesen dann in seiner Relevanz auf die Soziale Arbeit anzuwenden.

Soziale Arbeit und Sozialpädagogik sind durch ihren Anspruch gekennzeichnet, über wissenschaftliche Zugangsweisen fachliches Wissen und fachdienliche Methodologie zu generieren, die eine solide reflektierte und reflexive Praxis in unterschiedlichsten Feldern ermöglichen soll. Dazu gehört auch der Blick auf die historische Entwicklung der Domänen, indem die jeweiligen Antworten zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen historischen Konstellationen auf Spannungsfelder, insbesondere zwischen Disziplinierung und Hilfe zur Selbsthilfe, analysiert und bewertet werden. Der Band bietet einen spannenden Einblick in das weite Feld der Sozialen Arbeit / Sozialpädagogik sowohl was die Wirkungsorte als auch die disziplinären Bezüge wie auch die Theoretisierung der Fachlichkeit in historischem Verlauf anbelangt.

Zitierweise:
Ziegler, Béatrice: Rezension zu: Businger, Susanne; Biebricher, Martin (Hg.): Von der paternalistischen Fürsorge zu Partiipation und Agency. Der gesellschaftliche Wandel im Spiegel der Sozialen Arbeit und der Sozialpädagogik, Zürich 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (1), 2022, S. 181-183. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00102>.

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